Erfahrungsbericht

Erfahrungsbericht

Erfahrungsbericht von Ingo Hardt, der nach einem Zusammenbruch in der MEDICLIN Seepark Klinik behandelt wurde.

Erfahrungsbericht Adipositaszentrum

Ich habe wieder eine andere Welt betreten

Selbstständig sein, ein normales Leben führen. Ingo Hardt ist auf gutem Weg, dieses Ziel zu erreichen. Der 45-jährige kann sich heute mit einem Rollator fortbewegen, er kann sich selbst waschen und er hat neue Freundschaften geschlossen. Das sind riesengroße Fortschritte für jemanden, der noch vor acht Monaten 50 Kilo mehr wog und zwei Jahre lang an Bett und Rollstuhl gefesselt war.

Seit Sommer 2015 ist er in der MEDICLIN Seepark Klinik im niedersächsischen Bad Bodenteich. Im Rahmen einer speziellen Adipositas-Rehabilitation arbeitet er dort jeden Tag daran, weiter abzunehmen und buchstäblich wieder auf die Beine zu kommen.

Zusammenbruch mit über 280 Kilogramm

Rückblick: Vor drei Jahren brach Ingo Hardt in seiner Wohnung in Bad Nenndorf nahe Hannover zusammen. Ursache des Kollaps war eine Blutvergiftung infolge eines sogenannten offenen Beines, einer nicht heilenden Wunde. Zwei Tage lang lag der Alleinstehende auf dem Fußboden, dann fand ihn seine Schwester. Der Transport ins Krankenhaus aus dem ersten Obergeschoss war nur mit Hilfe der Feuerwehr möglich - Ingo Hardt wog 288 Kilogramm.

„Vor dem Haus stand ein 60-Tonnen-Berge-Kran“, erinnert er sich. Dieser Moment war ein trauriger Höhepunkt einer langen Leidensgeschichte. Über Jahre hatte der LKW-Fahrer an Gewicht zugelegt. „Mit 24 Jahren habe ich 130 Kilo gewogen, zehn Jahre später waren es noch einmal deutlich mehr.“ Auf die Frage, wie es so weit kam, verweist er auf seinen damaligen Berufsalltag als LKW-Fahrer, „dem besten Beruf der Welt“. Er lacht, als er das sagt. Nach einem Tag auf dem Fahrersitz standen am späten Abend Schnitzel mit Pommes auf dem Speiseplan oder ein paar Steaks vom Gaskocher, dazu ein halber Liter Cola, die Haribo-Packung war immer in Griffweite. „Alles was ungesund war, war meins“, blickt er zurück. Bewegung? – Fehlanzeige.

„Sport, was ist das, kann man das essen?“, das sei seine Einstellung gewesen. Gut ging das auf Dauer nicht: Mit steigendem Gewicht bekam er immer schlimmere gesundheitliche Probleme. Eine Wundrose im Bein, er musste immer länger liegen, dann entstand das offene Bein. Arbeiten war nicht mehr möglich, er musste von einem Pflegedienst versorgt werden. Schließlich kam es zur Blutvergiftung. 14 Tage lag er im künstlichen Koma, danach hatte er kein Gefühl mehr in den Füßen. Insgesamt drei Monate verbrachte er auf der Intensivstation, es entwickelte sich ein Dekubitus, eine wundgelegene Stelle.

Gesundheitlich schwer angeschlagen, brachte eine Magen-Operation Hoffnung. Er bekam einen sogenannten Schlauch-Magen und verlor rund 70 Kilogramm Gewicht. Richtig aufwärts ging es danach aber nicht. Nach der Operation kam er ins Pflegeheim, zwei Jahre verbrachte er dort überwiegend liegend. Das Bett verlassen konnte er nur mit Hilfe der Pfleger und des Decken-Lifters, außerhalb des Betts war er auf den Rollstuhl angewiesen. Er wog immer noch über 200 Kilogramm.

Zweimal in der Woche 20 Minuten Physiotherapie brachten nicht viel. „Das war kein Leben, sondern ein Vegetieren“, betont er.

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Schritt für Schritt geht es voran

Die Wende kam, nachdem eine Reha genehmigt wurde. Der MDK, der medizinische Dienst der Krankenkassen, hatte dafür in seinem Gutachten die MEDICLIN Seepark Klinik vorgeschlagen. Die Klinik in Bad Bodenteich ist auf die Behandlung von Essstörungen spezialisiert.

Ingo Hardt ist nun seit acht Monaten dort und, wie er sagt, „für jeden Tag dankbar“. In der Klinik stehen tägliches intensives Training und Therapie auf dem Programm: Einzel-Physiotherapie und Ergotherapie, Ernährungsberatung und viel Bewegung, flankiert durch psychologische Betreuung.

Nach der Aufnahme, er war liegend in die Klinik transportiert worden, begann für ihn ein langwieriger Prozess. Es war mühsam und oft schmerzhaft. Die Fortschritte kamen in kleinen Schritten. Die verkümmerten und verkürzten Muskeln mussten zunächst wieder aufgebaut werden. Er trainierte dazu im Bett liegend mit einem am Fußende angebrachten Therapiegerät mit Fahrradpedalen.

Die Physiotherapeuten und Pfleger übten mit ihm mehrmals am Tag Aufsitzen und Aufstehen. „Am Anfang ging es erst einmal auch darum, meine Angst zu überwinden, frei zu stehen.“ Als einen ersten wichtigen Fortschritt empfand Ingo Hardt, als er mit einem Rutschbrett den Transfer zwischen Bett und Rollstuhl alleine schaffte. „Ich war nicht mehr permanent ans Personal gebunden.“ Es folgten erste Schritte im Zimmer mit dem Rollator und irgendwann war das Etappenziel erreicht:

Er konnte die Treppe bewältigen – damit waren Wassertherapie und der Speisesaal erreichbar. „Ich habe wieder eine ganz andere Welt betreten. Nach Jahren, in denen ich auf dem Zimmer essen musste, war ich nicht mehr alleine. Das war eine tolle Erfahrung, wieder ins soziale Leben zurückzukehren.“

„Die Ernährungsberater passen auf uns auf“

In der Klinik wird das Gewicht streng kontrolliert. Jeden Dienstag steht Ingo Hardt auf der Waage, donnerstags bespricht eine Ernährungsberaterin mit ihm die aktuelle Entwicklung. Wenn die Waage ein Plus zeigt, wird gemeinsam durchgegangen, woran es gelegen haben könnte und sein Speiseplan kommt auf den Prüfstand.

„Die Ernährungsberaterinnen sind immer für uns da, man kann sie jederzeit auch auf dem Flur ansprechen, wenn man Fragen hat“, berichtet er. Auch im Speisesaal sind die Ernährungsexpertinnen präsent. „Die passen gut auf uns auf“, erzählt Ingo Hardt lachend. „Wenn man einmal zu viel auf dem Teller hat, wird man schon mal darauf angesprochen, aber immer nett, immer freundlich, immer erklärend!“

In der Lehrküche können die Rehabilitanden gesunde Rezepte ausprobieren, unter Anleitung, aber auch für sich in Fünfergruppen. „Man fragt vorher, ob ein Rezept in Ordnung ist und dann kochen wir zusammen.“ Hier können die Rehabilitanden ein Gefühl für eine gesunde Ernährung entwickeln: Ingo Hardt hat beispielsweise vegetarische Gerichte mit Tofu oder ein Eiweißbrot kennen und schätzen gelernt.

Ein Lendenwirbelbruch und eine Lungenentzündung haben ihn zwischenzeitlich zurückgeworfen. Dann musste er den Tod seiner Mutter bewältigen. Die psychologische Betreuung, die in der Klinik fester Bestandteil der Therapie ist, habe ihm dabei sehr geholfen, sagt er. Besonders hebt er hervor, dass die Psychologen von sich aus auf ihn zugekommen seien, als es ihm schlecht ging. Er hat die mentale Unterstützung schätzen gelernt und seine innere Einstellung geändert.

„Früher saß ich mit 240 Kilogramm im LKW und dachte, ´Leck mich am A…., ich bin so wie ich bin, schau´, dass Du mit mir klarkommst. Zum Psychologen? Ich hab´ doch keine Macke! Heute denke ich: War ich bescheuert: Übergewicht ist Kopfsache!“

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Persönlicher Bezug ist wichtig

Überhaupt: Ohne persönliche Zuwendung wären seine Fortschritte nicht möglich, das hebt Ingo Hardt hervor. Auf das Klinik-Team lässt er nichts kommen. „Von der Putzfrau bis zur Chefärztin versucht jeder, alles möglich zu machen. Das ist hier wie eine große Familie.“ Die Therapeuten, Ärzte, Pfleger und Schwestern wolle er „um nichts in der Welt“ tauschen. „Egal, was ist, die sind immer da. Wenn es mal hakt, höre man immer von jemanden ‚Auf geht‘s, das packst du!‘“ Auch viele Kontakte zu anderen Klinikbewohnern hat er geknüpft, beste Freunde habe er gewonnen. „Wir lachen hier wirklich viel.“

 

„Es fehlen noch 40 Prozent“

Nach der Reha wird er zu seiner Schwester ziehen. Diese hat in ihrem Haus das Erdgeschoss für ihn ausgebaut. „Nicht mehr ins Pflegeheim, dafür habe ich hier gekämpft.“ Nach acht Monaten in der MEDICLIN Seepark Klinik hat er nun eine Verlängerung der Reha beantragt, denn er sieht noch einen langen Weg vor sich. Sein Ziel ist, den Rollstuhl komplett in die Ecke zu stellen, sein Gewicht weiter zu reduzieren und irgendwann wieder arbeiten zu können. Er möchte wieder selbstständig sein, auf niemanden angewiesen. „Ich bin mit null Prozent hier angekommen, jetzt bin ich bei 60 Prozent. Es fehlen noch 40. Und ich versuche, weiter zu kämpfen.“

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